Kurz nach Mitternacht schlägt ein Penner die Decken zurück, erhebt sich, macht mit nackten Füssen drei Schritte zu seinem Nachbarn, den er wachrüttelt und dem er mit Worten und Gesten bedeutet, sein Schnarchen störe ihn. Dieser hält die Hand an sein Ohr, beim Lärm der Autos kann er den andern kaum verstehen.

„Mir gehen die Worte aus“: nicht die Worte gehen mir im Grund aus, sondern die Ideen, die zu den Worten führen. Oder vielmehr doch die Worte – jene, die Ideen nach sich ziehen, die dann nach Sprache drängen.

Gespräch mit Michel Serres: „Ich möchte die Hebamme der Welt sein, die wir vor uns haben. Das Interessante ist weniger das Vergangene zu bereuen als die Welt vorzubereiten, die kommt. Die Welt, die ich wiederfinden möchte, habe ich auf konkrete und wirkliche Weise gekannt. Ich möchte sie wiederfinden nicht unter dem Aspekt der verlorenen Zeit, sondern einer Welt, die es neu zu schaffen gilt. (…) Meine ganze Arbeit geht dahin zu versuchen das Denken zu verändern und es den Innovationen anzupassen, die wir fortlaufend produzieren.“ (Le Figaro, 20.5.15)

 

 

Zwei Gören heben in einer Ecke des Hofs unter meinem Fenster ihre kurzen Rücke, lassen die Hosen herunter, kauern sich nieder, die Füsse weit auseinandergestellt, Knie zusammen, und beginnen in dieser artistischen X-Bein-Stellung kichernd zu pinkeln. Die eine schiebt sich die verrutschte Sonnenbrille zurecht, die andere kratzt sich am nackten Oberschenkel. Pinkeln, quietschen, lachen, Hosen rauf, und weg sind sie. Eine Weile noch malen die beiden dunklen Wasserläufen ihre Fratzen auf das Pflaster, gerade so, als sei das Lachen auf den Boden geplatzt und suche dort seinen künstlerischen Ausdruck.

 

Seltsam, die Sonnenbrille eines Rappers als Ausstellungsobjekt in einem staatlich subventionierten Raum anzutreffen, entrückt unter Glas in einer Vitrine wie die Brille von Doktor Freud in Wien. (Ausstellung „Hip hop“, Institut du monde arabe)

 

Die Bäuche der Spatzen in den dunklen Zweigen des Tannenstrauchs glänzen in der Sonne wie Silbermünzen.

Einmal füllt sich der Bus auf seiner Fahrt mit Farbigen, einige Stationen weiter leert er sich und es steigen wieder Weisse zu.

 

Zweites orgiastisches Erlebnis innerhalb einer Woche (seit Monets Garten in Giverny), diesmal über das Ohr: Radu Lupu, am Klavier sitzend als sässe er vor einem Glas Wein, geniesserisch, gelassen. Sein Spiel, sei es noch so bewegt, ist die Ruhe selbst, gleichzeitig voller Emotionalität, die vom Orchester aufgenommen und zu einer Intensität gesteigert wird, die kaum auszuhalten ist. Das Paradies muss ein qualvoller Ort sein, man müsste mich dort nach kurzer Zeit mit akuten Symptomen von Sinnesekstase hospitalisieren. (Cité de la Musique)

An der Kreuzung

Du kommst aus der Metro, halb blind von den dunklen Gängen, hältst oben an der Treppe an, du stehst vor einem Platz, den du nicht kennst, versuchst aus dem Gewirr der fünf oder sechs Strassen, die sich hier treffen, klug zu werden, entschliesst dich für diese dort, überquerst den Platz, gehst der gewählten Strasse entlang, bis es dir nach einigen Minuten dämmert, dass es die falsche ist. Du gehst zurück, nimmst die nächste, merkst beim Park, der sich vor dir öffnet, es ist die richtige, aber die falsche Richtung, gehst zum Ausgangspunkt zurück, bist auf einmal nicht mehr sicher, ob es wirklich die Strasse ist, die du auf dem Stadtplan zu Hause nachgeschlagen hast, du hast ihren Namen schon vergessen, zur Verunsicherung über die Richtung kommen nun die Zweifel an deinem Gedächtnis. Dennoch fühlst du dich irgendwie bestätigt, das Dich-nicht-Zurechtfinden ist dir vertraut, eine Kindheitserfahrung? Nein, es handelt sich um keine biographische Urszene, eine Urszene ist es dennoch: deine Füsse wiederholen, was sonst deine Hände auf dem Papier tun, wenn sie ein Wort vor das andere setzen, die Worte nach einer Weile durchstreichen, neu beginnen, abbrechen, wieder ansetzen. Was für ein Glück, dass die Hände hier an der Kreuzung etwas tun können, was ihnen beim Schreiben verwehrt ist. Sie greifen in die Tasche, holen den Stadtplan hervor, entfalten ihn, der Finger tippt an die Stelle, an der du nicht weiterkommst, fährt dem Weg entlang, den du nun gehen wirst und der dich unfehlbar ans Ziel bringt. Eine Dame, die suchend herumsteht, steuert auf dich zu, fragt dich nach einem Boulevard, du zeigst ihr das Boulevard auf dem Plan, erklärst ihr die Richtung, die sie zu nehmen hat. Sie bedankt sich, stöckelt davon, eine Wärme steigt in dir auf, die das Schreiben so selten hervorruft: das Gefühl beim Suchen jemandem nützlich zu sein. (La Muette)

Meine Identität, das ist der Blick auf mich selbst, auf immer neue Facetten meines Denkens und Tuns, meines Fühlens und Wahrnehmens, auf ein Ganzes, das sich seit je nur stückweise enthüllt. In diesem suchenden Blick, und nur in ihm, fand und finde ich meine Identität.

Meine männlichen Landsleute, sagte gestern die Chinesin, erkenne ich daran, dass sie für das Foto vor Notre-Dame oder dem Eiffelturm in Achtungsstellung posieren, Hände an der Hosennaht. Die Japaner dagegen heben die Hand und machen das Victory-Zeichen.

Das Tanztheater setzt sich in der Pause fort, als ich oben am Geländer-Stehplatz des Treppenhauses meinen Platz einnehme: das Ballett der Hände am spiralförmigen Geländer, das Einknicken und Strecken der Beine auf den Stufen und einmal, als sich ein Gesicht zu mir hochdreht, das Solospiel einer weisslich bemalten japanischen Maske. (Pina Bauschs Tanztheater Wuppertal im Théâtre de la Ville)

 

Es gelingt mir nicht, mir die elegant gekleidete Dame in der vorderen Reihe – weisses glattes Haar, aufrechte Haltung, elegante Geste der Hand beim Grüssen – als jung vorzustellen. Das Alter gehört zu ihr wie ein Körperteil.

Pfingsten in der Cité

Am Nachmittag Umstellen meines Ateliers. Nichts blieb an der Stelle, wo es gestanden hatte. Ich schob die Tische zum Buffet zusammen, arrangierte die Stühle und Hocker zum Kreis und dachte an die Gäste, die zu kommen versprochen hatten, dachte an jede und jeden von ihnen, die auf den Stühlen Platz nehmen würden, eine innere Vorfeier aus Erwartung und Freude. Es war der erste der beiden intensiven Momente des Abends.
Der zweite eine Stunde später: als die in orientalische Gewänder gehüllte Sheherezade, die uns zwei Geschichten aus ihrer arabischen Heimat erzählt hatte, sich von ihrem Sitz erhob und mit allen ein Lied einübte, ein Lied aus Worten, die keinen Sinn ergaben, den Anwesenden aber, die aus allen Ecken der Welt stammten, mühelos über die Lippen kamen. Alle verstanden, was keiner verstand, vereint in der Prosodie kindlich schlichter Verse. Der Versuch geriet mehr zum Amüsement als zum wirklichen Singen, dennoch hatte sich unbemerkt der Geist des christlichen Festes, zu dem keiner der kleinen Runde eine Beziehung hatte, über diese gebreitet: Leute, die in verschiedenen Zungen reden und zum Teil aus verfeindeten Ländern stammen, flochten ihre Stimmen ein in den gemeinsamen Rhythmus des Nonsens, der mehr Sinn enthielt als manche der Diskussionen, die sonst geführt werden.
Am Morgen, beim Aufräumen, beim Zurückschieben, -tragen, -stellen der Stühle und Tische, war vom Rausch der Freundschaft nichts mehr übrig geblieben, die Arbeit glich vielmehr dem Zusammenwischen von Scherben. Erst als ich zu schreiben begann, stellte sich der Rausch wieder ein, und das war – ist – der dritte Moment des intensiven Erlebens.

Drei Tischreihen, daran festlich gekleidete Gäste, die nach vorne schauen, zur Bühne, wo wie auf einem Altar zwei lebensgrosse Puppen stehen, eine Braut und ein Bräutigam, lackiert glänzende Gesichter, verklärter Blick, etwas gar stark ausstaffiert mit Rüschen, Schleier, Kopfschmuck, mit Einstecktuch und Fliege, und erst als der Applaus losbricht bemerke ich, dass die beiden sich einander zugedreht haben und der Gesellschaft ihren Brautkuss vorführen. Wir aber, hinten am Eingang stehend und von den Kellnern aus dem Lokal geschoben, waren die Trauzeugen, aufgeboten vom Zufall, der Öffentlichkeit zu vermelden, dass sie um ein junges Paar reicher ist, was hiermit geschieht.

 

Der bretonische Erzähler vor dem Café, wie er das Publikum gleich mit dem ersten Satz in seine Geschichte holt: „In jener Zeit war es, dass“ (ces temps-là), und wie er Zeit vergehen lässt: „und die Tage vergingen“ (et les jours sont passés). An der Hand schlichter alltäglicher Formeln werden die ZuhörerInnen zum Wunderbaren geführt, ohne Umschweife, ohne dass sie bemerken, wie ihnen geschieht.

Vier Blicke und ein Happy End

Das Mädchen, das mir auf dem Pont de la Tournelle entgegenkommt, leichenblass, schwarzumrandete Augen, schiefer Kopf, Haltung wie eine welke Tulpe, schaut unverwandt, ohne die Augen je zu heben, über das steinerne Geländer ins Wasser.

 

Der Mitvierziger, den ich auf dem Boulevard St. Germain kreuze und der eine weisse Schärpe um den Hals gebunden hat, schaut ebenso unverwandt auf meinen blauen Schal. Erst als uns nur noch wenige Schritte trennen, blickt er mir durch seine runde Brille direkt ins Gesicht. Graue, vertrauenswürdige Augen, die mich mustern, bis wir fast auf derselben Höhe sind.

 

Auf der Ile de la Cité steht ein junger Mann in Selfie-Stick-Pose vor einem historischen Gebäude, ernstes Gesicht, kein Lächeln, macht mit ausgestrecktem Arm zwei Fotos, führt das Smartphone am Stecken vor sein Gesicht, als habe er eine Bratwurst vom Feuer genommen und wolle ein Stück davon abbeissen, streckt den Arm erneut aus, beriecht wiederum die Fotos, immer mit dem gleich neutralen Blick in Richtung Gerät.

 

Die smarte Asiatin, die viel schneller schwimmt als ich und mich in der Piscine Pontoise schon zweimal überholt hat, kommt im selben Moment am Rand des Bassins an. Wir haben uns gegeneinander gedreht, sie lacht, zeigt ihre kurzen Zähne, ich lache, sie taucht weg, ich tauche weg, und das ist das versprochene Happy End.