Die Jüdin aus Tel Aviv hat von ihrem palästinensischen Geliebten zum Abschied einen Anhänger geschenkt bekommen, der die Form des Staats Israel nachbildet. Sie zeigt mir auf dem Schmuckstück, wo Tel Aviv liegt. Er aber wohnt hier, sagt sie und legt den Finger dorthin, wo sie sein Flüchtlingslager vermutet, auf die Haut in der Nähe ihres Herzens.

Der Freund ihres Geliebten, ein Maler aus Ramallah, malt Bilder von der Landschaft seiner Heimat, die in ihrer Schönheit fast schon verstörend wirken. Die Spuren menschlicher Anwesenheit sind getilgt, es gibt keine Häuser und keine Strassen, keine Silos, keine Checkpoints und keine Sicherheitsmauer. Statt dessen viele Orange- und Grüntöne, sonnenbeschienene Täler, ein Gewebe von Feldern. Selten habe ich Bilder von solch unmittelbar politischer Aussage gesehen.

Der Schatten eines Riesenvogels streicht über die Sonnenwand, ein Vogel so gross, wie ich ihn hier noch nie gesehen habe – ein Adler? ein Geier? Rasche Flügelschläge. Der Schatten wird kleiner: ein Falke wohl eher, spitze Flügel, was will er dort an der Mauer? Noch ein Stück kleiner wird er, und als neben ihm in der Luft vor der Wand ein rundliches Ding erscheint, wird klar, es handelt sich um einen Sperling, der sich jetzt auf einen Vorsprung setzt und den Adlerschatten, den Falken- und Taubenschatten unter seinem kleinen Leib verschwinden lässt.

Auf gewissen Landschaften Monets und Corots hat man das Gefühl die Luft zu sehen, die Leere, die zwischen den Dingen liegt, eine kaum merkliche Trübung – die Luft, die den Raum mit der ihr eigenen transparenten Körperlichkeit ausfüllt und der Landschaft erst ihre Tiefe gibt.

Den Stadtplan zur Hand zu nehmen gibt mir noch immer das Gefühl, es gehe auf eine weite Reise.

Aus dem dunklen Baumschatten heraus gesehen erscheint der kleine Platz heller, die Mutter, die mit geöffneten Armen ihr Kind ruft, lockender, das auf sie zu rennende Mädchen freudiger: der Platz erstrahlt in der Steigerungsform, und nie war der Wind kühler als an diesem sonnigsten aller Tage. (place Dauphine)

 

Während der Messe sassen König und Königin in ihrer Kirche unter einem hölzernen Baldachin, um die Messe zu hören oder vielmehr den Prediger, dessen Kanzel sie genau gegenüber sassen, quer zum Längsschiff. Was weit vorne am Altar vor sich ging, dem sie die Linke zudrehten, schien sie weniger zu interessieren als die erbaulichen Worte des Starpredigers.
Am 21. Januar wird in dieser Kirche eine Messe für das Seelenheil von Louis XVI gelesen, der an diesem Tag hingerichtet wurde, unter Anwesenheit der königlichen Nachkommen; einmal sind die Bourbonen anwesend, einmal die Orléans, umgeben von unentwegten Royalisten aus dem In- und Ausland.
Die Dame, die mir dies ins Ohr flüstert und die auch weiss, dass die Orgel ursprünglich in der Sainte Chapelle stand, dass die zweite Messe am Sonntag eine Orgelmesse ist, dass hier die Maler Chardin und Boucher begraben liegen, hat mich kurz nach dem Eintritt in die Kirche an der hintersten Säule abgefangen. Sie hütet eigentlich den Karten- und Infostand in der Ecke, den niemand beachtet, verlässt ihn jedoch ab und zu wie ein Torhüter das Tor bei einem Match, der sich in der anderen Platzhälfte abspielt und ihn nach vorne gehen lässt, um am Spielgeschehen auch ein bisschen teilnehmen zu können. (Eglise Saint-Germain-l’Auxerrois)

Ich bin vom Anblick der Strasse, an deren Rand ich stehe, so fasziniert, dass ich es versäume sie zu überqueren. – Kann man im Gegenzug von der Schönheit eines Buches so fasziniert sein, dass man weiterzulesen vergisst?

 

Erst als mein Nachbar von der Bank aufsteht, bemerke ich, dass er neben einer schmuddeligen Jacke und einem altmodischen Hut auch eine dicke Sonnenbrille trägt und sein feister Nacken von einer Querfalte durchzogen wird. Als ich mich neben ihn setzte, sah ich in ihm nur den, der ein Buch liest.

Eine neue App zirkuliert zur Zeit in gewissen Schulhäusern: Gossip. Damit lassen sich diskreditierende Geschichten über Mitschüler in Umlauf bringen, heimlich geschossene Fotos, Gerüchte, Behauptungen, Unterstellungen, deren Urheber nicht zu ermitteln sind. Eine Expertin gibt im Radio auf die Frage, wie sich die Betroffenen gegen diese Art Mobbing zur Wehr setzen können, zur Antwort, am Besten schütze man sich, indem man die Angriffe einfach nicht zur Kenntnis nehme.
Ein weiterer Experte rechnet vor, dass in einigen Jahren die Digitalisierung und die Roboterisierung so weit fortgeschritten sein werden, dass es in Frankreich zu Millionen zusätzlicher Arbeitsloser käme. – Was kann man dagegen unternehmen?, fragt die Moderatorin. – Vor allem muss man der Entwicklung ins Auge schauen, sagt der Experte.
So lassen uns die Experten denn die Wahl, die Augen zu schliessen oder sie offen zu behalten. Darauf wärst Du nicht gekommen, wie?

Tomorrow wird vom E-Mail-Korrekturprogramm verbessert auf Ottomotor. Auch der Computer will ab und zu seinen Spass haben.

Efeuwand

Mit etwas Fantasie lassen sich im Efeuteppich an der Mauer gegenüber die Umrisse Frankreichs erkennen, mit den Einbuchtungen des Golfs von Biskaya, Oberitaliens, der Schweiz etc. Eine grüne Fahne, vom Wind geschüttelt, gezaust, durch deren lockeres Gewebe die Spatzen zu ihren Nestern schlüpfen.

Der Bettler, der an der Place St. Michel herumstreicht, bringt im Tag, wie er sagt, etwa 40 Euro zusammen. Leicht auszurechnen, wie lange er in einer jener Einzimmerwohnungen im Marais wohnen könnte, die von gewieften Geschäftsleuten tageweise für 200 Euro vermietet werden: knappe fünf Stunden.

 

„Es stimmt, Sarkozy hat unser Land in seiner Präsidentschaft an die Wand gefahren“, sagt die Mitvierzigerin, „aber er hat uns doch träumen lassen. Hollande tut nicht mal das.“

 

Und eine Israelitin sagt am Abend: „Du wirst Ende Monat nach Basel zurückkehren. Ich in die Hölle.“

Kurzroman am Rand
der Strasse ein weggeworfenes
Buch Names of Boys & Girls
nutzlos geworden die Eltern
haben die Reproduktion
wohl eingestellt.

„En cas d’absence, je ne suis pas là“ (Hinweis an einem Schreibwarenladen)

Wenn es mehrmals am Tag an meiner Tür klingelt, weiss ich, ein Monat ist um, die neu Angekommenen tasten im Dunkel des Korridors nach dem Lichtschalter.

Beim Auftauchen aus der Metro-Endstation nicht nur das Gefühl auf einem andern Kontinent angekommen, sondern selber zu einem Typ Mensch geworden zu sein, als den ich mich sonst nicht fühle, einem Weissen.

 

Schwer zu entscheiden, ob es sich bei diesem von einer Betonmauer umgebenen Stück Land neben der Ausfallstrasse um eine Müllhalde, einen Altwarenmarkt oder ein Bidonville handelt, wahrscheinlich geht eines in das andere über. Am Eingang wächst die abgelagerte Ware oben zusammen und bildet ein Tor, dahinter laufen die Mauern aus Industrieabfällen ins Innere wie die Gassen eines mittelalterlichen Städtchens. (Zwischen Courneuve und Bobigny)