Es gibt den astronomischen Sommerbeginn (21.6.), den metereologischen (1.6.) und den emotionalen Sommerbeginn. Dieser setzt ein, wenn die Stadt so nach Lindenblüten duftet, dass man auf Schritt und Tritt meint durch eine lange Allee zu gehen (gestern).

 

Die schlurfende Kellnerin im chinesischen Restaurant vermittelt entweder das Gefühl von unhöflicher Nachlässigkeit oder dasjenige einladender Gemütlichkeit. Es ist an dir zu wählen.

Vorn in der ersten Reihe sitzt sie, in der Mitte nahe der Bühne, vom Solisten nur zwei Armlängen entfernt. Mit offenem Mund und glänzenden Augen verfolgt sie jede Bewegung des Cellisten, ihre Haltung ist angespannt, ihr Gesicht von Bewunderung verklärt. Den Körper vorgebeugt, kniend beinahe und ohne Notiz vom Saal, den andern Leuten, der Jury zu nehmen, fiebert sie mit ihrem Sohn mit, der das Schlusskonzert am Konservatorium absolviert: Es gibt nur sie und ihn, ihn und sie. Vom Schlussapplaus, der nicht ihr gilt, fühlt sie sich sichtlich mitgetragen und mitgemeint. Und ich weiss nun, dass das Stück, das ich seit 6 Monaten über mir üben höre, von Tschaikowski stammt.

 

Das so ganz andere, das Leuchten in den Augen der Männer und Frauen, die, gefilmt von Soldaten der russischen Befreiungsarmee, der Hinrichtung von Kollaborateuren beiwohnen, entsetzt und triumphierend zugleich: das Leuchten aufflackernder Rache. Auffallend das häufige Wegblicken, das Schliessen der Augen im Moment, wo diese das schreckliche Geschehen, den Verstoss gegen die moralische Ordnung vorausnehmen. (Während die Bilder in mir jedes Gefühl auslöschen, weil ich für sie kein Mass und keinen Ort finden kann.) (Mémorial de la Shoa)

Der Schatten eines Schmetterlings tanzt über das Pflaster. Das Tier selber, verloren in der Buntheit und Hektik der Strasse, bleibt unsichtbar. Die Überreizung der Umgebung bewirkt, dass nicht der Schmetterling auffällt, sondern nur das irrende Seismogramm seiner Bewegungen.

 

Ob man die Ausstellung sehen müsse, fragt sie. Was soll ich zur Antwort geben? Nach einigem Zögern verneine ich die Frage. Sie würde sich die Ausstellung nur ansehen gehen um zum „man“ zu gehören, von dem sie bereits zuverlässig Teil ist.

 

Der im Lavendelfeld kauernde Gärtner, der geduldig die Winden entfernte und von dem keiner der an der Anlage Vorbeigehenden Notiz nahm, war der Höhepunkt gestern am Open Air der Tuilerien.

 

Die Oboe über mir spielt den Kuhreihen aus der Ouvertüre von Rossinis „Wilhelm Tell“, als wolle sie mir durch die sehnsüchtigen Alphirtenschluchzer den Abschied von Paris leichter machen.

 

Dem selben Zweck dient die Lektüre in einem Buch mit Schmähtexten über Paris, das mir Freunde zum Abgewöhnen geschenkt haben: „Fauliges Paris, abscheuliche, grässliche Stadt. Trübsinnige Stadt, trübsinnige Lichter in den trübsinnigen Strassen, traurige Clowns in den traurigen Varietés, traurige Schlangen vor den traurigen Kinos, traurige Möbel in den traurigen Läden.“ (Georges Perec 1967, in: „I like Paris. Petite Anthologie du désamour“, Parigramme 2013)

 

Sie fährt heute mit ihrem Mann für eine Woche nach London, weil sie nach zwei Monaten das Gefühl hat, in Paris alles gesehen zu haben, was ich sehen wollte. Wie leicht es fällt, all die Schätze links liegen zu lassen, die man nicht sehen will.

 

„Himmlisches Schloss“ für einmal nicht als Redensart, sondern als visuelles Erlebnis: das Schloss Versailles im riesigen Hohlspiegel des Künstlers Anish Kapoor als schmales gelbes Band am oberen Rand des Spiegels, auf dem Kopf stehend, allein in einer gewölbten Fläche aus nichts denn Wolken unter ihm.

 

Ludwig Börne über seinen Besuch in Versailles: ‚Diese beiden Paläste rechts und links von so edler Bauart? Wahrlich, die Götter Roms hatten keine schönern Tempel!’ – Das waren die Pferdeställe des Königs. – ‚Und dort?’ – Es gehörte den Hunden des Königs. – ‚Jenes auf der andern Seite?’ – Darin wurden die jungen Hunde gefüttert und erzogen, bis sie ein Jahr alt und diensttauglich geworden. – ‚Dort drüben, das unermessliche Gebäude?’ – Es enthielt tausend Zimmer und zweitausend königliche Diener wurden darin ernährt. Mit dem Verkaufe der Schüsseln, die unverzehrt von den Tischen kamen, gewann der Oberbeamte der Küche 150 000 Franken jährlich.“ (Schilderungen aus Paris“, 1822-1824)

 

Wer ist der lachende Dritte, der so vieles in Bewegung setzt und der sich nie zeigt? Der Wind. Der lachende Wind.

Beinahe statt der Pfeife die Brille angezündet, die ich in der Hand hielt, im Begriff sie mir aufzusetzen. Gibt es das Verb alzheimern? „Die Momente, in denen er alzheimerte, wurden zunehmend häufiger.“

 

Der Nachbar, 72, ein nach Kanada ausgewanderter Italiener, singt in seinem Zimmer lauthals eine Arie. Wahrscheinlich hat er sein Bild fertig gemalt und singt sich die überschüssige Schöpferfreude aus dem Leib. Seine ungeübte Stimme geht mir zu Herzen, mehr als jene der professionellen Sänger treppauf, treppab, die sich in Korrektheit üben.

Die Weltfremdheit und Selbstzufriedenheit vieler französischen Politiker in Parlament und Regierung mag auch auf die geopolitische Lage der Hauptstadt fern vom Lärm der Welt, in der weiten Ebene der Ile(!) de France zurückzuführen sein: Seit dem Ancien Régime ist hier kein Grenzwind zu spüren, der das Bewusstsein von Grenzenlosigkeit und Einmaligkeit trüben würde.

 

Als man gestern um Mitternacht an der Zimmerparty zu singen begann, war es an der Zeit die Gesellschaft zu verlassen. Es war jene Art Singen, die wie das Witzeerzählen dann aufkommt, wenn man sich nichts mehr zu sagen hat („Gemütlichkeit“, die das Zusammensein tötet).

 

Beim Joggen berühren nur die Zehenspitzen der jungen Brünette das Strassenpflaster, engelgleich schwebt sie dahin, und als sie vor dem Postamt anhält, tänzelt sie weiter auf den Zehenspitzen, bis die Reihe an ihr ist, aus dem Automaten Geld zu beziehen. Den geschäftlichen Teil besorgt sie fast bewegungslos, die Beine durchgestreckt, die Füsse fest auf dem Boden.

Baudelaire über die Wirkung des Haschisch: „Sie sitzen da und Sie rauchen; Sie glauben in Ihrer Pfeife zu sitzen, und Sie sind es, die von der Pfeife geraucht werden; Sie sind es, die sich in Form von bläulichen Wolken verströmen.
Sie fühlen sich gut, nur etwas beschäftigt und beunruhigt Sie: Was tun, um aus Ihrer Pfeife auszusteigen?“ („Vom Wein und vom Haschisch“, 1851)

 

Der Bettler, neben dem ich stehenbleibe und für den ich in meinen Taschen vergeblich nach einem Geldstück suche, sagt nach einer Weile: „Ach, machen Sie sich keine Sorgen“, und ich, der ich mit einer Münze trösten wollte, gehe selber getröstet durch ein Wort.

Am Eingang des Friedhofs steht eine gusseiserne Stele mit der Aufschrift „Tronc pour les pauvres de Paris“, oben ein Briefkastenschlitz zum Einwurf der Gaben. Der Schlitz ist von dichten Spinnweben versiegelt. (Ivry)

Verliebt in die Bewegung ihrer Hände. – Wer, du? – Nein, sie selber.